Beschreibung des Faches Indogermanistik

Die Indogermanistik wird auch Historische Sprach­wis­sen­schaft, Histo­risch-Ver­glei­chen­de Sprach­wis­sen­schaft oder In­do­ger­ma­ni­sche Sprach­wis­sen­schaft genannt. Der Aus­druck "in­do-­ger­ma­nique" = "indogermanisch" wurde von Conrad Malte-Brun, einem dänischen Geografen, der in Paris arbeitete, ge­prägt und stammt also ursprünglich aus dem Französischen. Er soll die indo­ger­mani­schen Spra­chen in ihrer geo­gra­phi­schen Ver­brei­tung auf dem eura­si­schen Kon­ti­nent um­klam­mern: mit In­disch als der süd­öst­lichs­ten und Ger­ma­nisch als der nord­west­lichs­ten indo­ger­ma­nischen Sprach­grup­pe. In nicht-deutschsprachigen Ländern werden heute die gleichbedeutenden Begriffe Indo-européen, Indo-European usw. verwendet, die auf Thomas Young 1813 zurückgehen. Doch auch im deutschsprachigen Raum findet sich inzwischen der Ausdruck indo-europäisch.

Die Indogermanistik ist eines der sogenannten "kleinen Fächer". Der Begriff ist jedoch "umgekehrt proportional" zu der Menge der Inhalte, mit denen sich die Indogermanistik beschäftigt.

Die zahlreichen indogermanischen Einzelsprachen las­sen sich – ab­ge­sehen von bruch­stück­haft über­lie­fer­ten Spra­chen – in 11 große Sprach­grup­pen un­ter­tei­len (in al­pha­be­tischer Reihen­folge):

Albanisch
Anatolisch (u.a. Hethitisch, Karisch, Lu­wisch, Ly­disch, Ly­kisch, Pa­laisch)
Armenisch
Baltische Sprachen (Altpreußisch†; Let­tisch, Li­tauisch)
Germanische Sprachen (u.a. Dänisch, Deutsch, Eng­lisch, Frie­sisch, Go­tisch†, Is­län­disch, Nie­der­län­disch, Nor­we­gisch, Schwe­disch)
Griechisch
Indo-iranische Sprachen (u.a. Avestisch†, Far­si, Hin­di, Kur­disch, Mara­thi, Pashto, Sanskrit, Urdu)
Keltische Sprachen (Bretonisch, Gal­lisch†, Irisch, Kelt­ibe­risch†, Kor­nisch†, Kym­risch/Wali­sisch)
Romanische (u.a. Französisch, Italie­nisch, Ka­ta­la­nisch, Por­tu­gie­sisch, Ru­mä­nisch, Spa­nisch) bzw. Ita­lische Spra­chen (u.a. La­tein†, Sa­bel­lisch†)
Slavische Sprachen (u.a. Bulgarisch, Pol­nisch, Rus­sisch, Ser­bo­kroa­tisch, Slo­va­kisch, Slo­ve­nisch, Tsche­chisch, Ukrai­nisch, Weiß­rus­sisch)
Tocharisch†
Dazu kommen noch einige sogenannte „Trüm­mer­spra­chen“ oder „Rest­sprachen“ (z.B. Phry­gisch, Thra­kisch).

Die Indogermanistik umfasst insgesamt drei große Be­reiche: die Sprach­wis­sen­schaft, die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft und die Kul­tur­ge­schichte. Man unter­sucht Texte aus den ver­schie­denen Sprach­gruppen und kann sie dann je­weils un­ter schwer­punkt­mäßig diachron-linguis­tischem, synchron-linguis­tischem, phi­lo­lo­gischem, kultur- oder reli­gions­wis­sen­schaft­lichem As­pekt ana­ly­sieren.

Die Indogermanistik beschäftigt sich auch mit den Ur­sprüngen und der Ent­wick­lung der indo­germa­nischen (idg.) Sprach­fa­milie, der die meisten der heu­te ge­sproche­nen Spra­chen Euro­pas und ei­nige Spra­chen des Vor­deren Orients (z.B. Per­sisch) und Süd­asiens (z.B. Hindi und Urdu) an­ge­hören (siehe unten). Etwa die Hälf­te der ge­samten Mensch­heit spricht inzwischen eine indo­ger­manische Spra­che. Viele idg. Spra­chen sind aber schon in sehr al­ter Zeit be­zeugt, das Alt­in­dische, Hethi­tische und das äl­teste Grie­chisch be­reits seit dem 2. Jahr­tausend vor Christus. Durch die­se lange schrift­liche Tra­die­rung sind vor allem die indo­ger­ma­nischen Spra­chen (ne­ben den Spra­chen des Vor­de­ren Orients sowie den sino-tibe­tischen Spra­chen) für dia­chrone sprach­wis­sen­schaft­liche Unter­su­chungen bestens ge­eig­net. Denn Spra­che wan­delt sich stän­dig: Es gibt kei­ne ein­zige natür­liche Spra­che, die im Lau­fe der Jahr­hun­derte un­ver­ändert ge­blie­ben ist. Die Indo­ger­ma­nistik unter­sucht nun die zwi­schen den ein­zelnen Spra­chen und Sprach­stufen be­stehen­den Ähn­lich­kei­ten und lei­tet da­raus Re­geln ab, aus de­nen sich die Ver­wandt­schaft die­ser Spra­chen be­weisen lässt: Denn sie haben so grund­le­gende struk­tu­relle Ähn­lich­keiten, dass man das nicht durch Zu­fall oder Sprach­kontakt er­klä­ren kann: So liegt zum Beispiel die Wahr­schein­lich­keit, dass eine nicht-indo­ger­ma­nische Spra­che ein Drei-Genus-System (Mas­ku­li­num, Fe­mi­ni­num, Neutrum) mit fol­gen­den En­dungen be­sitzt: -s für das Mas­ku­linum (z.B. lat. dominus „Herr“), -ā für das Fe­mi­ninum (z.B. lat. puella „Mäd­chen“), -m für das Neutrum (z.B. lat. iugum „Joch“) – wie es für indo­ger­ma­nische Spra­chen ty­pisch ist – , nach den Be­rech­nungen von Johanna Nichols bei 0,000 000 57. Dies ist also fast so ge­ring wie die Wahr­schein­lich­keit, im (deutschen) Lot­to zu ge­win­nen (ca. 0,000 000 07). [Johanna Nichols: „The Com­pa­rative Method as Heu­ristic“. In: The Com­pa­rative Method Re­viewed. Regula­rity and Ir­regula­rity in Language Change. Ed. by Mark Durie & Malcolm Ross, Ox­ford Univ. Press, Oxford 1996, S. 39-71.] Mit anderen Wor­ten: Setzt eine Spra­che die­ses Sys­tem fort, so han­delt es sich um eine indo­ger­ma­nische Spra­che. Hun­derte wei­te­rer Über­ein­stim­mungen in die­ser Art schließen eine zu­fäl­lige Ähn­lich­keit also voll­stän­dig aus. Durch die Ab­lei­tungs­regeln wird es mög­lich, eine ge­mein­same Grund­sprache, das sog. „Ur­in­do­ger­ma­nische“ zu re­kons­tru­ieren, das et­wa im 4. Jahr­tau­send vor Christus ge­spro­chen wurde.

Die Vergleichende Indogermanische Sprach­wis­sen­schaft ist ein inter­dis­zi­pli­när orien­tier­tes Fach und gilt als Ver­bin­dungs­glied zwi­schen den Kul­tur­räumen vom nörd­lichen Euro­pa über den Mit­tel­meer­raum und den Al­ten Orient bis Indien und Zen­tral­asien. Mo­der­ne Fra­ge­stel­lungen der All­ge­mei­nen Sprach­wis­sen­schaft und Theo­re­tischen Lin­guistik wer­den auf in­do­ger­ma­nische Spra­chen über­tra­gen, die ihrer­seits den bei­den ge­nannten Dis­zi­pli­nen sprach­li­ches Ma­te­rial lie­fern. Be­rüh­rungen er­ge­ben sich wei­ter­hin mit an­de­ren his­to­rischen und phi­lo­lo­gischen Fächern wie der Klas­sischen Phi­lo­lo­gie, der Ger­ma­nistik, der Anglis­tik, der Nor­distik, der Slavi­stik, der Al­ten Ge­schich­te, der Ar­chäo­lo­gie, der Vor- und Früh­ge­schichte, der In­do­logie und der Orienta­listik. Exem­pla­risch seien hier ei­nige fä­cher­über­grei­fende The­men­stel­lungen auf­ge­listet: Grund­la­gen der All­ge­meinen Sprach­wis­sen­schaft, Rich­tungen der Sprach­ty­po­logie, theo­re­tische Gram­ma­tik­mo­delle am ein­zel­sprach­lichen Bei­spiel, Pro­ble­me der grie­chischen und la­tei­nischen Pho­no­lo­gie, Mor­pho­logie, Syn­tax und Se­man­tik, kul­tur­ge­schicht­liche Fra­ge­stel­lungen, Sprach­kurse. Die Indogermanistik bildet nicht nur für die uni­ver­si­täre Lauf­bahn aus. Sie be­dient ne­ben Lehr­amts­studien­gängen (z.B. Latein, Deutsch, Ge­schich­te) wei­tere Stu­dien­fächer, die eine Viel­falt an be­ruf­lichen Zie­len er­mög­lichen (z.B. im Ver­lags­wesen, in Bi­blio­theken, in Museen).

Wer sich für das Fach interessiert, sollte sich vor Be­ginn ei­nes Stu­diums der his­to­rischen indo­ger­manischen Sprach­wis­sen­schaft fol­gen­de Fra­gen stel­len und be­ant­worten:

Was interessiert mich?
- Interessiert mich eine Sprache in ihrer Struk­tur – und nicht nur die in die­ser Spra­che ge­schrie­bene Li­te­ratur bzw. die Sprech­fähig­keit?
- Interessiere ich mich für alte Kul­tu­ren und ihre Re­li­gion, Phi­lo­so­phie, Ge­schich­te, Dicht­kunst, Hu­mor, Tech­nik, Schrift usw.?
- Lese ich gerne in Grammatiken?
- Lese ich gerne in Wörterbüchern?

Was kann ich?
- Beherrsche ich außer meiner Mutter­spra­che noch min­des­tens eine an­dere al­te und/oder mo­der­ne Sprache?
- Möchte ich mich zusätzlich zu den Spra­chen, die ich schon kann, mit min­des­ten 5-6 wei­te­ren al­ten und/oder mo­der­nen Spra­chen be­schäf­tigen?
- Habe ich die Fähigkeit zu logischem und ana­ly­ti­schem Denken?
- War ich (wenigstens einigermaßen) gut in Mathematik?
- Habe ich ein gutes visuelles Gedächtnis?


Sollten Sie die meisten dieser Fragen positiv be­ant­wor­tet ha­ben, so kön­nen Sie so­fort mit dem Stu­dium be­ginnen! Dazu sollten Sie sich aber über die Uni­ver­si­tä­ten, die In­do­ger­ma­nis­tik an­bie­ten, die Stu­dien­reform ("Bo­logna-Pro­zess") und den Stu­dien­gang In­do­ger­ma­nistik im Rahmen dieses BA/MA-Systems in­for­mie­ren.